Die Pandemieerfahrung hat gezeigt: Das Gesundheitswesen muss digitaler werden. Seit 2020 wurden bereits viele Weichen für eine digitale Versorgung gelegt. Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz hat der Gesetzgeber eine Basis für die Digitalisierung in Krankenhäusern geschaffen. Digitale Lösungen wie Videosprechstunde erleben einen Boom, digitale Gesundheits-Apps wurden zur Kassenleistung, und viele Start-ups denken Gesundheitsprozesse neu, um verschiedenen Beteiligten des Gesundheitssystems den Alltag zu erleichtern. Damit alle Akteure vom Digitalisierungsschwung wirklich profitieren können, braucht es jedoch mehr als gute Ideen und einzelne Insellösungen. Systeme, Organisationen und Geräte müssen miteinander interagieren und Gesundheitsdaten nahtlos und sicher austauschen können, sodass Prozesse reibungslos funktionieren und für Patienten sowie Leistungserbringer ein echter Mehrwert entsteht.
Bisher weitestgehend unabhängig gewachsene Sektoren des Gesundheitssystems – die ambulante Versorgung, der Krankenhaussektor und Rehabilitationseinrichtungen – stehen nun vor der Herausforderung, dass der Datenaustausch noch nicht flächendeckend funktioniert. Bereitet sich ein Patient beispielsweise auf eine Operation vor und wird vom ambulanten Facharzt in ein Krankenhaus verwiesen, ist die Einweisungsdokumentation nicht automatisch in der elektronischen Patientenakte (ePA) oder im internen Krankenhaus-Informationssystem verfügbar und muss neu eingespeist werden. Damit der Austausch von Gesundheitsinformationen einfach und medienbruchlos zwischen verschiedenen beteiligten Systemen gelingt, benötigt es unter anderem eines: Interoperabilität im Gesundheitswesen.
Was ist Interoperabilität im Gesundheitswesen?
Der Begriff „Interoperabilität“ bezeichnet den reibungslosen Datenaustausch zwischen verschiedenen Sektoren und den damit verbundenen IT-Systemen. Es kann sowohl der Austausch externer Daten zwischen verschiedenen Ärzten und medizinischen Einrichtungen sein als auch der interne Austausch zwischen medizinischen Geräten innerhalb eines Krankenhauses. Das soll sicherstellen, dass Daten rechtzeitig und sicher ausgetauscht und für z.B. die Behandlung eines Patienten genutzt werden können. Dafür muss allerdings zunächst die Kommunikation zwischen verschiedenen Systemen ermöglicht sein, damit auch die IT-Systeme verschiedener Hersteller miteinander kommunizieren können, ohne auf Lösungen von Drittanbietern zurückgreifen zu müssen. Um nahtlos miteinander zu arbeiten, brauchen Systeme demnach offene Schnittstellen und Standardisierung.
Die Ebenen der Interoperabilität und Kommunikationsstandards
Damit Systeme als interoperabel gelten, muss die Interoperabilität auf vier verschiedenen Ebenen gewährleistet werden:
- Strukturelle Interoperabilität: Diese Ebene beinhaltet die grundlegenden technischen Voraussetzungen und Standards, die die Geräte bzw. Systeme erfüllen müssen, damit ein Datenaustausch überhaupt stattfinden kann. Das können zum Beispiel standardisierte USB-Anschlüsse oder Datenprotokolle sein.
- Syntaktische Interoperabilität: Auf der nächsten Ebene wird sichergestellt, dass die Systeme dieselbe „Sprache“ sprechen. Das sorgt dafür, dass die gesendeten Informationseinheiten auch korrekt als solche erkannt werden.
- Semantische Interoperabilität: Die semantische Ebene gewährleistet, dass die gesendeten Informationseinheiten auch richtig verstanden und korrekt entschlüsselt werden. Das bedeutet, dass sowohl das Sender-System als auch das Empfänger-System ein gleiches Verständnis der einzelnen Informationseinheit haben.
- Organisatorische Interoperabilität: Die letzte Ebene bildet die übergeordnete Abstimmung verschiedener systemübergreifender Prozesse. Das beinhaltet zum Beispiel die Verteilungen von Zugriffsberechtigungen, die Datensicherheit oder auch die Implementierung von Standards bei den Arbeitsabläufen zur Datennutzung.
Der Datenaustausch zwischen Systemen erfordert den Einsatz einheitlicher Kommunikationsstandards – für das Gesundheitswesen wird aktuell der neue Standard FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources) aus der Familie HL7 (Health Level Seven) eingeführt. Diese Familie an Standards unterstützt die Interoperabilität im Gesundheitswesen, da dadurch die relevante Kommunikation zwischen verschiedenen Systemen medienbruchlos und barrierefrei stattfinden kann. Das ursprünglich aus den USA stammende System wird aktuell in Deutschland gefördert und adaptiert. Je mehr Softwareentwickler sich an diesen Kommunikationsstandard halten, desto einfacher und besser funktioniert auch die Interoperabilität.
Die Vorteile der Interoperabilität im Gesundheitswesen
Durch interoperable Systeme innerhalb des Gesundheitswesens können Ärzte einen umfassenden Überblick über einen konkreten Patienten erhalten. Das ist besonders bei schweren Erkrankungen oder multimorbiden Patienten zentral. Außerdem bietet die Interoperabilität einen breiten Datenüberblick über bestimmte Informationen zu Gesundheitsanwendungen, was den Nutzen von medizinischen Anwendungen genauer bestimmen kann. Weil größere Datenmengen generiert werden, die zur Auswertung verwendet werden können, wird auch die langfristige Forschung fundierter.
Für Patienten bietet die Interoperabilität und der damit zusammenhängende Informationsaustausch eine verbesserte Gesundheitsversorgung. Prozesse werden vereinfacht und medizinische Fachkräfte erhalten einen umfassenden Überblick über die Krankheitsgeschichte des Patienten. Dadurch wird auch die Behandlung bei unterschiedlichen Ärzten reibungsloser und mit weniger Bürokratie für den Patienten verbunden. Zukünftig sollen sämtliche Informationen gebündelt in einer elektronischen Patientenakte verfügbar sein. Innerhalb der ePA werden medizinische Daten wie Befunde, Medikationspläne und Arztbriefe gespeichert. Der Patient kann dem behandelnden Arzt oder Krankenhaus eine Zugriffsberechtigung zu diesen Daten erteilen und auch selbst den Überblick behalten.
Für Krankenhäuser, Ärzte und medizinische Einrichtungen wie Reha-Zentren führt ein interoperables Gesundheitswesen außerdem zu einer Zeit- und Kostenersparnis. Die vom Patienten bereitgestellten Daten müssen nicht mehr händisch und mühsam umgewandelt werden, damit sie im internen Praxisverwaltungssystem bzw. Krankenhaus-Informationssystem nutzbar sind, sondern können ganz einfach nach einheitlichen Standards über die interoperablen Schnittstellen ausgetauscht werden.
Gesundheitswesen & Interoperabilität: Deutschland im internationalen Vergleich
Im Vergleich mit anderen Ländern bildet Deutschland laut der von der Bertelsmann Stiftung erstellten Länderberichte aktuell noch das Schlusslicht, wenn es um ein digitales und interoperables Gesundheitswesen geht. Es mangelt derzeit noch an Standards und damit auch an interoperablen, also offenen Schnittstellen, über die die Systeme kommunizieren können. Das bedeutet auch, dass die vorhandenen Daten noch nicht standardisiert zusammengefasst und damit genutzt werden können. Die von der gematik entwickelte Plattform „Vesta“ sollte dieses Problem lösen und die festgelegten Standards für alle zentral verwalten und verfügbar machen. Die Plattform diente als eine Art Informationsverzeichnis, das Transparenz und Interoperabilität fördern sollte. Allerdings fand Letzteres nicht im gewünschten Maß statt, da hier meist alternative, regionale Plattformen verwendet wurden. Diese Insellösungen sollen nun von einer neue Koordinierungsstelle in der gematik abgelöst werden, welche die konkreten Ziele zur Interoperabilität erreichen soll und dabei das Gesamtbild im Blick haben muss. Dabei soll jeder Bedarf gemeinsam mit einem Expertengremium, dem Interop Council, identifiziert werden. Das Gremium besteht aus sieben vom Bundesgesundheitsministerium und der gematik ausgewählten Experten, die in verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens sowie der Lehre tätig sind. Jeder von ihnen vertritt dabei eine bestimmte Nutzergruppe. Gemeinsam mit dem Gremium und anderen freiwilligen Experten, die an den Diskussionen der öffentlichen Sitzungen teilnehmen wollen, sollen Empfehlungen ausgestellt bzw. Standards festgelegt werden. Im Zuge dessen wird die Plattform „INA“ (der Interoperabilitäts-Navigator) von der gematik betrieben, um die für Entwickler und Nutzer notwendige Transparenz zu schaffen. Auf dieser Plattform werden sämtliche nützliche Informationen wie eine Wissensdatenbank oder Neuigkeiten zu aktuellen Events festgehalten.
Im internationalen Vergleich wird deutlich, an welchen Stellen andere Länder Deutschland voraus sind. Länder wie Dänemark oder Estland haben schon früh mit der Digitalisierung ihres Gesundheitswesens begonnen und dabei konstant auf Interoperabilität gesetzt. So haben sie zum Beispiel zentrale Gesundheitsinformationsportale wie sundhed.dk in Dänemark oder das Patientenportal digilugu.ee als Teil des estnischen Gesundheitsinformationsaustauschnetzwerks ENHIS, die als Koordinierungsstellen fungieren. Sie fördern die Digitalisierung und Interoperabilität und setzen dabei die benötigten Standards. Diese Portale sind standardisierte Plattformen, die einen Ankerpunkt für alle Beteiligten bilden. Auf ihnen werden sämtliche medizinischen Informationen für jeden einzelnen Bürger gespeichert und – sofern der jeweilige Bürger zustimmt – können Leistungserbringer bei Bedarf auf diese Informationen zugreifen.
Wie diese Beispiele zeigen, kann Interoperabilität innerhalb eines Landes problemlos funktionieren. Länderübergreifende Interoperabilität zum Beispiel innerhalb der EU wird eine weitere, große Herausforderung werden. Die Grundlage dafür bietet das Projekt epSOS, dass bis 2014 mit Teilnehmern aus 25 Ländern stattfand. Daran anschließend wurden verschiedene Projekte ins Leben gerufen wie eStandards und openMedicine, die sich mit der Interoperabilität verschiedener Gesundheitssysteme unterschiedlicher Länder beschäftigen, um EU-Bürgern einen nahtlos dokumentierten Arztbesuch auch außerhalb ihres Heimatlandes zu ermöglichen.
Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur innereuropäischen Interoperabilität im Gesundheitswesen ist die Schaffung eines Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS). Den Vorschlag dafür hat die Europäische Kommission Anfang Mai 2022 Kommission vorgelegt. Der EHDS setzt einen Rahmen für den Austausch und die Nutzung der digitalen Gesundheitsdaten innerhalb der Europäischen Union. Er soll zu einem zentralen Bestandteil des europäischen Gesundheitswesens werden und Patienten innerhalb der EU länderübergreifend medizinische Versorgung bereitstellen. Welche Chancen und neue Versorgungsmöglichkeiten der EHDS bietet und welche Hürden noch existieren werden, beschreibt Walter Hess in einer Publikation des Think Tanks „Friends of Europe“.
Wie eHealth-Tec die Interoperabilität mit seinen Partnern im Gesundheitswesen umsetzt
Für eHealth-Tec steht Interoperabilität im Fokus bei der Entwicklung aller Anwendungen. So muss das Notaufnahmen-Informationssystem ERPath mit allen in Kliniken verfügbaren Systemen interagieren können, seien es Krankenhaus-, Labor- oder Radiologie-Informationssysteme. Interoperabilität ermöglicht eine Einbettung oder Übernahme von Tools und Funktionen aus der Software von eHealth-Tec-Kooperationspartnern, etwa Videosprechstunden, Arzneimitteltherapiesicherheits-Systeme oder Eigenanamnesetools. „Mit ERPath ermöglichen wir es unseren Anwendern, beliebige Systeme mit unserem Notaufnahmen-Informationssystem zu verbinden”, berichtet Andreas Ropertz, Geschäftsbereichsleiter ERPath. „Wir verstehen Interoperabilität als eine Selbstverständlichkeit und nicht als Service – ganz im Sinne des Krankenhauszukunftsgesetzes.“ Aktuell wird Interoperabilität innerhalb von ERPath mittels des Kommunikationsstandards HL7 gewährleistet. Das Ziel ist, vollständige Medienbruch- und Barrierefreiheit zwischen verschiedenen Sektoren im Gesundheitswesen zu erreichen. Dafür arbeiten die eHealth-Tec Entwickler an der Einführung des neuen Standards FHIR, der höchst flexibel und skalierbar ist und einfacher zu implementieren ist.
Wie könnte die Zukunft der Interoperabilität im Gesundheitswesen aussehen?
Neben der Optimierung bestehender Prozesse im Gesundheitswesen bietet der interoperable Datenaustausch in Zukunft Perspektiven für die Entwicklung von neuen Diagnose- und Therapieansätzen – wenn große Mengen von Gesundheitsdaten zur Verfügung stehen und mittels künstlicher Intelligenz analysiert werden können, könnten Krankheiten in ihrer Entstehungsphase frühzeitig erkannt und sogar verhindert werden. Diesen Ansatz der „Disease Interception“ erklärt Dr. Anke Diehl in Folge #36 des eHealth-Tec Podcasts Diagnose: Zukunft. Sie ist unter anderem Teil des Interop Council Expertengremiums der Koordinierungsstelle der gematik und vertritt dabei die IT-Anwender. Für sie steht eines fest: „Mithilfe von Gesundheitsdaten kann personalisierte Präzisionsmedizin vorangetrieben werden. Wenn wir Daten standardisiert miteinander kombinierbar machen – also auch aus dem niedergelassenen Bereich, aus dem Krankenhausbereich, von Wearables und so weiter – und mehr integrieren könnten, dann könnten wir vielleicht auch Krankheitsverläufe schon vorzeitig absehen und persönlich beraten. Das ist unser Ziel.”
Die wichtigste Bedingung dafür: die Interoperabilität der Daten.